Ihre Position:

„Ich will wieder an die Uni“ - Studieren in der Krise

Ein Artikel aus der SPIEGEL-EI-Ausgabe 3/2020, gültig vom 06.07.2020 bis 05.08.2020.

Seit ihrer Eröffnung vor über zehn Jahren hat die Psychosoziale Beratungsstelle (PSB) einen stetigen Zuwachs an Ratsuchenden erfahren. Das liegt einerseits an einer höheren Akzeptanz, bei psychischen Problemen entsprechende Unterstützungsangebote zu nutzen, andererseits ist die Lebenswelt der Studentinnen und Studenten komplexer und konfliktgeladener geworden.

Foto: Der menschenleere Campus vor dem Eingang zum Hörsaalzentrum.
Verwaister Campus und soziale Distanz – auch für viele Studenten eine schwierige Situation. ©SWDD

Dass sich die verschiedenen Problemlagen in Krisenzeiten noch verstärken, kann sich jeder vorstellen. Doch was genau beschäftigt die Studentinnen und Studenten, die zur PSB kommen, zurzeit besonders? Die SPIEGEL-EI Redaktion hat bei Dr. Vera Bamler, stellvertretende Leiterin der PSB, nachgefragt.

Gibt es DIE EINE besondere Frage, die Studenten und Studentinnen derzeit bewegt?

Frau Dr. Bamler: Nein, die Anliegen, mit denen wir konfrontiert werden, sind vielfältig wie eh und je. Jedoch sind Belastungen aufgrund der Digitalisierung des Lehrbetriebs an den Hochschulen und der damit zusammenhängenden starken Reduzierung analoger Lehr- und Lernkontakte (d. h. der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht) sehr präsente Themen innerhalb der Beratungen.

Die Betroffenen leiden u. a. unter dem Verlust ihrer gewohnten Alltagsstruktur, da sich Privatleben und Studienalltag im häuslichen Umfeld fast vollständig vermischen. Als problematisch wird empfunden, dass die Einstellung des Präsenzbetriebs in der Konsequenz dazu führt, dass

  • empirische Tätigkeiten im Rahmen von Beleg-, Praktikums- oder Abschlussarbeiten aufgrund unterschiedlicher Hygieneauflagen schwer zu realisieren sind,
  • das In-Kontakt-Treten mit dem wissenschaftlichen Personal bei Fragen rund um Lehre und Prüfungen – trotz zahlreicher Online-Angebote – schwierig bleibt,
  • Fristaufhebungen und Prüfungslockerungen Vermeidungs- und Aufschiebeverhalten verstärken und
  • Studentinnen und Studenten regelrecht die „soziale Kontrolle“ fehlt. Ganz konkret sind damit Anreize gemeint, um mit der sozialen Welt in einen „echten“ kommunikativen Austausch zu treten.

Die anhaltenden Kontaktbeschränkungen, so wird in den Beratungen häufig beklagt, bedingen den Verlust unbeschwerter, spontaner und echter Kontakte zu Kommilitonen und Kommilitoninnen, zum Freundeskreis, zur Familie etc. und verstärken über die Zeit psychische Symptome und Erkrankungen, wie z. B. Ängste, Depression, psychosomatische Beschwerden.

Es herrscht eine große Bandbreite an Bewältigungsstrategien für die Krise, auch unter den Studierenden. Da gibt es die, die am liebsten illegal eine Party mit den Freunden veranstalten würden und andere, die gar nicht vorsichtig genug sein können, weil sie vielleicht eine Erkrankung im Umfeld miterlebt haben. Erleben Sie diesbezüglich Beratungsbedarf?

Frau Dr. Bamler: Das individuelle Angstlevel bzw. die jeweils unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit, Ängste bzw. Bedrohlichkeiten abzuwehren, spielt bei der Bewältigung der aktuellen Situation eine große Rolle. Die bestehende Unsicherheit im Umgang mit dem „unbekannten Virus“ kann zum einen biografisch erworbene Angsterfahrungen im Individuum (re)aktivieren und – unabhängig von der tatsächlichen „Bedrohung“ durch COVID-19 – z. B. eine übersteigerte Angst vor Ansteckung auslösen, die wiederum zu Panikattacken, sozialer Isolation oder zwanghaftem Hygieneverhalten führt.

Zum anderen können Ängste im Zusammenhang mit der Pandemie abgewehrt werden, um z. B. unangenehmen seelischen Zuständen wie Traurigkeit, Unsicherheit, Wut, Verzweiflung nicht ausgesetzt zu sein. In diesem Fall werden reale Gefahren verharmlost, verleugnet oder intellektualisiert, indem ein scheinbar sorgloses Verhalten an den Tag gelegt wird. Das jeweilige Bewältigungsverhalten mit den Auswirkungen der Corona-Krise spielt gegenwärtig vor allem als Querschnittsthema eine zentrale Rolle im Beratungsverlauf. Die überwiegende Mehrheit der Studentinnen und Studenten, die sich an unsere Beratungsstelle wendet, agiert dennoch angemessen und verantwortungsbewusst im persönlichen Umgang mit den Einschränkungen durch die Pandemie.

Was raten Sie Studenten, die einen Orientierungsverlust erleiden bzw. mit der Vielfalt der Meinungen zum Umgang mit der Epidemie nicht zurechtkommen?

Frau Dr. Bamler: Habe ich so noch nicht erlebt, aber falls das zum Thema in der Beratung werden würde, dann rate ich zu Folgendem: Informationsdienste limitieren, seriöse Nachrichtendienste nutzen, Medienkonsum zeitlich reglementieren, Informationen kritisch prüfen und sich von Personen, Chats, Usergroups, Foren, die Verschwörungstheorien, unrealistische Bedrohungsszenarien oder Fake News verbreiten, fernhalten.

Studierende sind in der Regel medienkompetente Menschen. Das kritische Filtern, Prüfen und Bewerten von Informationen ist Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens – einerseits. Auf der anderen Seite ist diese Alterskohorte sehr aktiv auf Social-Media-Kanälen bzw. bei der Verbreitung und dem Kommentieren von Nachrichten aller Art. Die aktuelle Verunsicherung, das bestehende Abstands- und Hygienereglement sowie die bereits jetzt spürbaren sozialen, bildungspolitischen, kulturellen, wirtschaftlichen etc. Folgen – das alles löst Stress aus und insbesondere Angst, die Kontrolle zu verlieren. Die Beschäftigung mit Informationen rund um Corona dient deshalb auch dazu, die (gefühlte) Kontrolle wiederzuerlangen, um dadurch Ängste zu reduzieren, d. h. aktiv zu sein statt passiv ausgeliefert.

Fühlen sich Studentinnen und Studenten Informationen „hilflos“ ausgesetzt, sind sie gar empfänglich für Verschwörungstheorien, können u. U. auch seelische Belastungen oder psychische Erkrankungen vorliegen, die einer psychotherapeutischen bzw. psychiatrischen Behandlung bedürfen.

Rechnen Sie mit einer verstärkten Zahl von Studienabbrüchen wegen Corona und den Auswirkungen der Krise?

Frau Dr. Bamler: Ja. Wir gehen davon aus, dass aufgrund der Kontaktbeschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie ein Studium nicht erfolgreich zu Ende gebracht wird. Vor allem die Studienabschlussphase ist eine sehr sensible, in der neben den aktuellen Arbeitsbelastungen oft auch bereits schwelende Probleme und Konflikte aufbrechen. Das führt u. U. zu einem Konglomerat verschiedener seelischer Beschwerden. Die Gefahr, den Studienabschluss zu „boykottieren“, ist dann sehr hoch – insbesondere bei Studierenden, deren Selbststeuerung, Konflikt- und Gefühlswahrnehmung eingeschränkt ist, die unter sozialen Ängsten oder depressiven Symptomen leiden. Aber nicht nur Studienabbrüche sind vorstellbar. Ein Hochschulstudium, das sich vorwiegend online abspielt, in dem das alltägliche soziale Miteinander sowie der akademische Austausch von Angesicht zu Angesicht – im Fakultätsgebäude, im Hörsaal, Seminarraum, Labor, in der Mensa, Bibliothek, in der Campuskneipe etc. – wegfällt, ist weder für das psychische Wohlbefinden noch die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen erstrebens- oder empfehlenswert.

Zurück zur Übersicht der SPIEGEL-EI-Ausgabe 3/2020